...Schwer zu sagen, was genau sie so unbeliebt macht, doch nach dem, was Plato und die Anderen so sagen, scheint es zum Teil mitder Auffassung zu tun zu haben, dass der Kopie weniger Besonderes zukommtals dem Original (also anders gesagt: dass es x Kopien geben mag, aber immernur ein Original); anderenteils mag es mit der Vorstellung verknüpft sein,dass sie weniger echt ist als das Original (das sie weder eine Beziehung zum gesellschaftlichen und künstlerischen Kontext noch zur Biografie des Künstlersaufweist; in gewissem Maße aber auch mit der Überzeugung, sie sei von geringerer Qualität als das Original; und ein Stückweit mit der tautologischen Annahme, die sei nicht so originell wie das Original. Kurz, was der Kopie fehlt,ist das Authentische; sie ist geradezu per definitionem unauthentisch –oder etwa doch nicht?

Ralf Brögs Zero RPM Records sind Kopien. Es sind Kopien von Schallplatten.Brög hat die Vinylplatten mit einer Farbschicht aus Wachsmalstift versehen, siegescannt, in ihrer Größe verändert und dann gedruckt. Schlicht und einfachKopien. Tatsächlich entbehren sie die Qualität der Originale.

Wenn man sie, wie der Titel andeutet, mit einer Geschwindigkeit von null Umdrehungenin der Minute abspielt, dann erzeugen sie ohnehin keinen Klang.Man kann Brögs Bearbeitung des Prince-Stücks „Purple Rain“ oder seine Adaptionvon „Isoldens Liebestod“ nicht abspielen. Schließlich sind es ja Ausdruckeauf Papier und keine Vinylpressungen. Ähnliche Fragen ließen sich in Bezugauf Echtheit und Originalität stellen. Letztlich entspringt die Kopie von IsoldensLiebestod nicht in demselben Sinne der Seele des Künstlers wie es die ursprünglicheSchallplatte tut. Doch muss das nun unbedingt heißen, dass BrögsKopien weniger authentisch sind?

Nun kann man, wenn man sie am Original misst, von Brögs Fassung von PurpleRain wirklich sagen, ihr fehle das Authentische des Prince-Songs. Sie entbehrtder Klangqualität des Vinylfassung, ihrer musikalischen Originalität, ihres Kontexts.Was Brög jedoch demonstriert ist, dass eine Kopie weit mehr sein kannals einfach die Verdopplung einer bestimmten Qualität oder Idee. Sie kannauch die Schaffung anderer Qualitäten und anderer Ideen bedeuten. Brögs„Radioaktivität“ ist mit der Kraftwerk-Originalfassung vergleichbar, geht jedochkeineswegs in dieser auf. Das ist eine andere Art Aufnahme, die in einem ganzanderen gesellschaftlichen und künstlerischen Kontext, aus anderem Material,unter Hinzuziehung anderer ästhetischer Strategien und affektiver Register entstandenist, was dann auch andere Erfahrungsweisen hervorruft.

Zero RPM Records können nicht (und wollen nicht) Songs zu Gehör bringen;sehr wohl jedoch machen sie Rhythmen sichtbar. Dadurch, dass er die Originalschallplatteneinwachst und die Ergebnisse dieser Prozedur in der Folgeeinscannt, macht der Künstler die Rillen des Vinyls zu Linien; zu dickeren unddünneren Linien, Linien mit größerem oder kleinerem Abstand voneinander,gleichmäßig und ungleichmäßig verteilten Linien. Der tiefe Bass auf JamesFigurines House-Platte „Forgive Your Friends“ erklingt in Form repetitiver,gleichmäßiger Linien. Der komplexe, gedehnte Rhythmus von Wagners„Liebestod“ findet seine Form in einem feingliedrigen Netzwerk, das sich aus dünnen, ungleichmäßigen Verbindungen zusammensetzt. Bei demDance-Klassiker „Higher State of Consciousness“ überträgt sich der schrilleHöhepunkt als sich schnell nach innen drehende Zentrifuge – und damittatsächlich ins Bewusstsein. Funktion wird zu Form; Musik wird zu Malerei(oder eigentlich zu Fotografie, sie erinnert jedoch weit stärker an Malerei).Die Verdopplung der einen Qualität oder Idee erweist sich als die Erfindungeiner anderen. In Brögs Werk ist die Kopie immer schon ein „Orignal“.
Ganz gleich, ob es sich nun um eine Installation, einen Film, ein Gemälde oderein Buch handelt, jedes

Kunstwerk bringt seinen eigenen Betrachtungsmodus, sein eigenes Erfahrungsregister hervor. Es entwirft gewissermaßen einen Vertrag,der einem als Betrachter oder Leser oder Hörer sagt, was man erwartenkann und was nicht. Eine Tragödie zum Beispiel setzt einen ganz anderen Vertragauf als eine romantische Komödie: der erstere geht üblicherweise davon aus,dass die Welt schlecht ist, während letztere vorsieht, dass sie im Grunde gutist; eine Tragödie sagt gewöhnlich, dass Liebe sich in Hass verwandeln kann,wohingegen es nur äußerst selten romantische Komödien gibt, die sich mitdieser Prämisse einverstanden erklären würden. Man stelle sich eine Screwball-Komödie vor, in der Jimmy Stewart Grace Kelly missbrauchte, oder eine Versionvon „Notting Hill“, bei der Julia Roberts Hugh Grant schwer traumatisierte –nahezu unvorstellbar. Als erkenntnistheoretische Kategorien sorgen Kopie undOriginal auch für je andere Betrachtungsweisen. Eine Kopie will in ihrem Verhältniszu einem ihr äußerlichen Original verstanden werden, während einOriginal zu seinen eigenen Bedingungen wahrgenommen werden kann. Da es sich bei ihnen gleichermaßen um Kopien und um Originale handelt, verweisendie Zero RPM Records gleichzeitig auf zwei einander entgegengesetzte Erfahrungsregister. Einerseits veranlassen sie uns dazu, über ihr Verhältnis zu derMusik, zu dem Material und zu dem Produktionskontext jenes Außen nachzudenken,auf das sie verweisen: Synthesizer und Gitarren, Taktilität und Analogie,Minimal-Konzeptualismus und MTV, die DDR und Reaganomics.
Andererseits fordern sie uns auf, sie innerhalb ihres eigenen Bezugssystemszu würdigen: als modernistische Experimente mit Farbverläufen, abstrakteKosmen aus geheimnisvollen Strukturen und Mustern, ungelöster Rätselund unerforschter Möglichkeiten. Zugleich setzetn sie voraus, das man aufsein Wissen – über den Originalkontext – zurückgreifen kann und dass manvon diesem Wissen absieht – um sich auf die Schallplatten als Gemälde (odereigentlich als Fotografien) einzulassen.

An dieser Stelle zeigen sich Brögs Kopien als etwas, das man, wäre das nichtein so problematischer Begriff, als wahrhaft „originell“ bezeichnen könnte.Den größten Teil der Achtziger und der Neunziger über – einer Zeit, den mangemeinhin als Postmoderne bezeichnet – haben die Künstler kopiert, was dasZeug hielt. Damien Hirst kopierte Gold und Diamanten und anderes teures Zeug; Cindy Sherman kopierte Werbeanzeigen; Jeff Koons kopierte Nippesfiguren; Thomas Demand kopierte Kopien. Diese Kopien waren die Auslöserinteressanter Fragen über das Wesen der Kunst, aber auch zu einigen äußerstlebhaften moralischen Debatten. In Demands Fall wurde gar der Unterschiedzwischen der Kopie und dem durch die duplizierten Original problematisiert. Doch komplizierte man den Begriff der Kopie nicht weiter, indem man etwagezeigt hätte, dass diese immer schon ein „Original“ sei. Eigentlich verschriebensie sich ganz der Dekonstruktion, der Kritik, der Lächerlichmachung oder Verherrlichung der Qualitäten oder Ideen, die sie kopierten – der Konsumgesellschaft, Geschlechterverhältnisse, Wertsysteme des Geschmacks, Physikalität,Kunst. Es ging ihnen nicht etwa um die Herstellung einer anderen Qualität, eineralternativen Idee. Die Zero RPM Records tun beides gleichzeitig. Da es sich umKopien von Vinylschallplatten (und nicht von CDs oder iTunes-Dateien) handelt,liefern sie, wenn auch eher assoziationshaft, einen Kommentar zu jenemInteresse, welches die so genannten „digital natives“ derzeit analogen undtaktilen Kulturen entgegenbringen. (Bezeichnenderweise stieß ich das erste Malin Verbindung mit den körnigen Fotos von Anton Corbijn auf das Werk von Ralf Brög, und auch diese weisen eine Berührungsästhetik auf, die junge Leuteheutzutage so faszinierend finden, wie der Erfolg von Apps wie Hipstamaticoder Instagram verrät.) Doch konstruieren sie auch eine andere Erfahrung:die der Fotografien, die sie zu deren eigenen Bedingungen erfolgen lassen.

Tatsächlich liegt es gerade an der Dekonstruktionstendenz von Brögs Platten,dass sie allererst zur Konstruktion befähigt werden: die Gestalt der Platte ermöglichtdie Kugelform, Rillen ermöglichen die Linien, Rhythmen, Basstöne undPausen machen die Netzwerke, Strukturen, Muster und Membranen ebenso wiedie Farbverteilung möglich.Es trifft zu, dass die von Brög geschaffenen Drucke auch für sich bestehen. Siefunktionieren ausnehmend gut als modernistische Experimente mit Bricolage,Narration und Flachheit; sie funktionieren als postmoderne Erkundungen vonEklektizismus, Hybridität und Fragmentierung; sie funktionieren als psychogeografischeBeschärungen fiktionaler Welten; sie funktionieren wie Meditationenin der Tradition Rothkos. Doch was die Intertextualität der Erfahrung hinzuzufügenvermag, ist Alterität – sie verleiht ihr größere Tiefe der Bedeutung, desGefühls, der Haptizität. Das modernistische Projekt der Abstraktion etwa ist derNostalgie für eine Vergangenheit taktiler und körperlicher Erfahrungen entgegenoderzur Seite gestellt. Die flachen, nicht-narrativen Linien beschwören ihreeigene Welt herbei, sie lassen aber auch an die Welt der Vinylschallplatte denken,in der Klänge noch physische Realität besitzen, wo Signifikanten und Signifikatenoch in einem einfachen Verhältnis stehen. Hier gewinnt die Abstraktionein hohes Maß an Greifbarkeit. Ebenso werden die postmodernen Strategien des Pastiche der Reinheit der Form gegenübergestellt, wodurch dem Vielheitlichendas Singuläre beigemischt wird.Der Kulturtheoretiker Fredric Jameson hat einmal geschrieben, der zeitgenössischen Kunst mangele es an Tiefe, da sie sich nicht mehr auf die Wirklichkeiteinlasse, sondern nur mehr mit deren Repräsentationen. Die hermeneutische Geste wird aufgehoben. Doch in den Zero RPM Records gibt es gerade deswegen Tiefe, weil sie sich auf die Repräsentationen einlassen. Was Brögvorführt ist, dass die hermeneutische Geste weniger aufgehoben als vielmehrumgeleitet wird, anderswohin verweist, eine andere, bislang unentdeckte„Tiefe“ (oder, mit Deleuze gesprochen, eine „Fluchtlinie“) freilegt.Die Frage ist also nicht, ob Brögs Platten authentisch sind oder nicht. Vielmehrgeht es darum, ob Authentizität überhaupt der angemessene Begriff bei derBeschreibung dieser Art Kunst ist. Handelt es sich bei Brögs Kopie immerschon um ein „Original“ – nicht um das Original, sondern um das Original eineranderen Ordnung, eines, das nicht aus dem entsteht, was wir als Wirklichkeitwahrnehmen, sondern aus einer Repräsentation – das bedeutet, dass die Kategoriendes Besonderen, des Echten, der Qualität und Originalität ebenfalls einerNeukonzeption zu unterziehen wären – und die der Authentizität noch obendrein.Was wir meinen, wenn wir davon sprechen, dass etwas authentisch ist, istletztlich, dass dieses Etwas aus sich selbst heraus, innerhalb seiner eigenen Bedeutungssphäreagiert. Das ist eine Bestimmung, die wir keinesfalls auf die ZeroRPM Records übertragen können. Sie sind authentisch, da sie aus sich selbstheraus agieren; zugleich aber sind sie es auch wieder nicht, entspringt doch einTeil ihres Bedeutungsgefüges anderswo. Diese Schallplatten, diese „Kopien“zwingen uns dazu, uns eine neue kritische Umgangssprache auszudenken.Eine, die in der Lage wäre, ihre greifbare Abstraktionsform, ihre multipleSingularität, ihre besondere hermeneutische Geste miteinander zu vereinbaren.Kunst bringt uns zum Denken; nicht zum Nachdenken darüber, was wir ohnehinschon wissen, sondern über Dinge, von denen wir noch keinen blassen Schimmerhaben. Kopie oder nicht, das ist in der Tat etwas ganz Besonderes.

Ralf Brögs Zero RPM Records – Lob der Kopie
von Timothy Vermeulen

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